Die Wahrheit und das Märchen

Die Wahrheit ging durch die Strassen, ganz nackt, wie am Tag ihrer Geburt. Kein Mensch wollte sie in sein Haus einlassen. Jeder, der sie traf, flüchtete voller Angst vor ihr.

Eines Tages ging die Wahrheit wieder in Gedanken versunken durch die Strasse. Sie war sehr betrübt und verbittert.

Da begegnete sie dem Märchen. Das Märchen war geschmückt mit herrlichen, prächtigen und vielfarbigen Kleidern, die jedes Auge und jedes Herz entzücken.

Das Märchen fragte die Wahrheit: «Was ist mir dir, meine Freundin, warum bist du so betrübt?»

Die Wahrheit antwortete: «Es geht mir sehr schlecht, ich bin alt und betagt und kein Mensch will mich kennen.»

Hierauf erwiderte ihr das Märchen: «Nicht weil du alt bist, lieben dich die Menschen nicht. Auch ich bin sehr alt, und je älter ich werde, desto mehr lieben mich die Menschen. Siehe, ich will dir das Geheimnis der Menschen enthüllen: sie lieben es, dass jeder geschmückt ist und sich ein wenig verkleidet. Ich werde dir solche Kleider borgen, mit denen ich angezogen bin, und du wirst sehen, dass die Leute auch dich lieben werden.»

Die Wahrheit befolgte diesen Rat und schmückte sich mit den Kleidern des Märchens. Seit damals gehen Wahrheit und Märchen zusammen.

Warum Märchen?

Die Wahrheit und das Märchen

Die Wurzeln des Märchens sind uralt und reichen zurück in die graue Vorzeit. Mythische und magische Elemente können wir in den Inhalten des Märchens entdecken. Es macht die Kinder mit Zusammenhängen vertraut, die in der heutigen Zeit kaum noch zu finden sind, z.B. echte Armut, das alte Handwerk, alte Berufe, das Königtum in der ursprünglichen Art.

Es bewahrt uns die Sprache, die so vielseitig ist, dass der Computer Mühe hat, alle Worte zu kennen. Diese Sprache ist sehr bildhaft und stark in ihren Aussagen. Kindern fällt es im allgemeinen leicht, die aus dem Märchen entstehenden Emotionen zu begreifen, zu verarbeiten und in ihr tiefstes Innerstes aufzunehmen, um sie dort später wieder zu entdecken.

Wenn dieser «Grundstein» fehlt, ist es als Erwachsener nur sehr schwer möglich, diese Gefühle zu entwickeln.

Das Kind entdeckt im Märchen die eigene Innenwelt, seine Wünsche und Ziele. Es entdeckt die alten Tugenden, lernt verschiedene Verhaltensmuster kennen und wird mit der Problembewältigung vertraut gemacht. Dadurch werden neue Entwicklungsschritte möglich, bestimmt Ängste finden keinen Nährboden. Reifungsvorgänge werden vertieft und Ablösungsprozesse erleichtert.

[Quelle: Märchenhimmel]

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